Die Hintergründe des romantisch-geistlichen A-cappella-Programms
Musikalische Romantik in Deutschland des späteren 19. Jahrhunderts: das war mehr als das sinfonische Schaffen Brahms, Bruckners und Mahlers, mehr als die Vervollkommnung des Kunstliedes bei Brahms und Wolf, mehr als Sinfonische Dichtung und Bühnenweihfestspiel bei Franz Liszt und Richard Wagner. Daneben, heute fast vergessen, damals viel beachtet und hoch gerühmt, schlägt sich eine neue Idee von dem, was die Kirche sei, in der geistlichen Musik insgesamt und vor allem gottesdienstlich gebräuchlichen Chormusik nieder.
Sowohl in den protestantischen Kirchen als auch in der römisch-katholischen erwachen Erwartungen an die Kunst und Musik, um die spezifischen konfessionellen und liturgischen Profile neu zu schaffen. Dass das Amt des Leipziger Thomaskantorats in jener Zeit so sehr in die Mitte der kulturellen Öffentlichkeit rückt, vielleicht mehr, als es jemals zuvor geschah, hat vor allem mit dem Mangel an Identifikationspunkten zu tun. Dieses Amt, aus historistischer Sicht untrennbar mit dem Namen Johann Sebastian Bach verbunden, bildet ein für das Werden der geistlichen Chormusik mächtiges Gravitationszentrum aus. Es ist zu mutmaßen, dass die Komponisten des romantischen A-cappella-Programms der Bergischen Kantorei hierin durchaus einen großen Antrieb zum Schaffen ihrer Werke sahen.
Ein weiterer, nicht geringerer Schaffensantrieb mag durch die Liturgiereform Friedrich Wilhelm III. gegeben gewesen sein; diese war im Wesen ein liturgischer Neubeginn in Form einer politisch wie religiös motivierten Union. Auch diese Idee bedurfte eines Vorrates an praktikabler gottesdienstbezogener Musik. Das Zentrum dieser Religiosität war der Berliner Dom, an den die Hohenzollern namhafte Musiker zu binden trachteten. So entstand zwischen der „neuen“ Attraktivität Leipzigs mit Thomaskantorat, Gewandhausorchester und Konservatorium und der Staatmetropole Berlin mit Dom und königlicher Musikhochschule eine nicht zu unterschätzende Rivalität, die sich in den Lebensläufen der Komponisten widerspiegelt.